Hier und da steht sie noch in London. Rot, kastenförmig, mit einem Kuppeldach. Manche sehen sie an, laufen herum und fotografieren sich. Ob Selfie oder Gruppenbild mit nostalgisch-vorzeitlichem Telefonkasten. Ein Spaß selbst für Digital Natives. Viele Passanten nehmen sie gar nicht wahr und gehen achtlos an ihr vorüber. Dabei ist sie für England-Touristen nach wie vor ein Highlight, ob in London oder in den Highlands.
Irgendwie gehört die rote Telefonzelle genauso zur Insel wie Big Ben, Fisch & Chips oder die Queen. Längst zäumen die Straßen moderne Telefonsäulen der British Telekom, die ganz prosaisch ST6 heißen.
Die alten roten Telefonboxen gelten dagegen für Enthusiasten als schützenswert und werden von ihren sogar gezählt, um Modelle und Orte der Aufstellung festzuhalten. Zu Zeiten von Smartphones und Tablets mag das ein Anachronismus sein. Trotzdem, ist es umso spannender, dass die rote Telefonzelle mit der einprägsamen Gestalt die rasanten Veränderungen der Gesprächskultur überlebt hat. Manchmal erfüllt sie sogar einen neuen Zweck, ob technisch angepasst oder in Pubs, Gärten und privaten Refugien als Blickfang mit Geschichte. Schließlich wurden immer wieder mal ausgemusterte Modell verkauft und gelangten sogar auf den Kontinent. Wer hätte das gedacht.
Der britische Architekt Sir Giles Gilbert Scott wohl kaum. Er stammte aus einer berühmten Architekten-Familie, wobei sein gleichnamiger Großvater ebenso den Entwurf für das Albert Memorial in London und die neogotische Nicolaikirche in Hamburg geliefert hatte. Der talentierte Enkel gewann 1924 einen Design-Wettbewerb, den die britische Postbehörde ausgeschrieben hatte, um die erste Generation der aus Beton gefertigten mit einer Holztür versehenen Telefonzelle zu ersetzen. Scott gewann die Ausschreibung mit einem für seine Arbeit charakteristischen Entwurf. Er fand Inspiration in der in England beliebten Architektur der Neogotik und kombinierte sie mit modernen Arbeitsmethoden wie Baustoffen. Sein Modell firmierte unter der Bezeichnung Typ K2 und wurde später mehrfach überarbeitet und den Wünschen des Auftraggebers angepasst.
Übrigens präsentierte Scott seinen Entwurf Silberfarben. Den Verantwortlichen bei der Post lag sehr viel daran, dass die telephone box schon von Weitem sichtbar war. Einfach damit bei Notfällen die Polizei oder Feuerwehr schnell verständigt werden konnte. So wählten sie die Signalfarbe Rot für den Anstrich aus. Auf dem Lande konnten die Gemeinden sich allerdings auch für die Farben Grün, Gelb, Weiß oder Grau entscheiden. Man wollte schließlich nicht zu exaltiert auftreten und bedachte zugleich die Farbharmonie idyllischer Dörfer.
Beim zweiten Blick auf diesen Alltagsgegenstand stellt sich heraus, dass es ein ungewöhnliches Architektur-Zitat ist. Scott verarbeitete die Gestaltung des Mausoleums von Sir John Soane. Der 1837 verstorbene 84-jährige Architekt gehörte zu den bedeutendsten britischen Architekten seines Zeitalters. Als sein wichtiges Werk gibt die Bank of England. Nach dem Tod seiner Frau hatte er für den Londoner Friedhof Old St Pancras eine Grabstätte entworfen, die auch zu seiner Ruhestätte werden sollte. Offensichtlich erkannte Scott in dieser Erinnerungsstätte das Potential für den Aufenthalt für etwas irdischere und weitaus kürzere Aufenthalte.
Ob sich zeitgenössische Liebhaber der roten Box diese Vorgeschichte vergegenwärtigen wollen, bleibt fraglich. Spannend ist es allemal zu sehen, wie Soanes vom Klassizismus geprägte Formensprache die Postmoderne beeinflusste und letztlich für England-Fans zu einem charakteristischen Symbol des Inselreiches aufstieg.