Paris, London, New York – Fashion Shows, Modezirkus, Glamour. Das ist nicht neu, aber jedes Jahr wieder das Neueste. Wer Mode macht, kreiert und trägt, wer Mode liebt und ihrer Regierung folgt, wird bejubelt oder belacht. Dazwischen gibt es nicht viel. Sie umwirbt, sie schmeichelt, sie verführt. Ob frau oder man es will, in den Bann der Mode gerät jeder. Mode allein ist der Maßstab von modern oder antiquiert, chic, schön oder out of Fashion.
Wenn uns heute Schönheiten auf dem Laufsteg und in bewegten Bildern vermitteln, was modisch und begehrenswert ist, waren es Jahrhunderte lang Gemälde, die Schönheitsideale und Herrschaftsansprüche verkörperten. Was dort getragen, wie dort posiert wurde, war weit mehr als modisches Beiwerk. Stoffe, Juwelen, Perlen, Möbel, Teppiche symbolisierten Macht und Besitz. Schon Farbe verkündete vielfach den gesellschaftlichen Stand. Über den Umstand, wer sich was an Stoffen und Schmuck leisten konnte, wachten oft strenge Sittenwächter, gleichwohl wie missgünstige Mitmenschen. Schönheit und Herrschaft, Ökonomie und Schneiderhandwerk sind untrennbar miteinander verbunden. Trotz aller materiellen Dimensionen besitzt das Schöne, das sich im Modischen steigert, einen unbestreitbar metaphysischen Wert.
Angesichts dessen verwundert es kaum, dass mit dem Künstlerkleid, welches um 1900 im öffentlichen Leben Aufmerksamkeit erzeugt, so viel mehr verknüpft ist, als Stofflichkeit, Muster und Nähkunst. Das gesellschaftliche Potential, der Bekleidung stets innewohnend, wird nun in einer neuen Qualität zu einem Mittel der Befreiung aus gesellschaftlichen Konventionen. Wie vielfältig, bunt und unerwartet dieser Aufbruch in eine neue Zeit war, konnte in der Ausstellung im Krefelder Kaiser Wilhelm Museum unter dem Titel „AUF FREIHEIT ZUGESCHNITTEN. DAS KÜNSTLERKLEID UM 1900 IN MODE, KUNST UND GESELLSCHAFT“ bis Ende Februar 2019 anhand von Kleidern und Accessoires betrachtet werden.
Ergänzend und erläuternd erschien zu dieser Ausstellung im Verlag Hirmer ein Katalog, der allein durch seine kunstvolle Gestaltung ein großes Lese- und Sehvergnügen bietet. In einer Reihe von Beiträgen, die die neuesten Forschungen und Erkenntnisse präsentieren und thematisch in die Rubriken: „Das Kleid als Kunstwerk“, „Neue Formen und Dekore“, „Ambivalente Rollenbilder“, „Inszenierung und Vermittlung“ sowie „Blick zurück nach vorn“ gegliedert sind, wird dieses Zusammenspiel von Kunst, Mode, Fotografie, Tanz und Werbung in der Zeit der Reformbewegung beleuchtet, analysiert und gedeutet. Verständlich und nachvollziehbar sind diese Interpretationen um so klarer, da die rund 400 Abbildungen in exzellenter Weise das Geschriebene belegen und ergänzen.
Die Autorinnen und Autoren ordnen und analysieren Kleiderentwürfe und Lebensvorstellungen von bekannten Künstlern wie etwa Heinrich Vogeler, Henry van de Velde, Josef Hoffmann oder Sonia Delaunay ebenso wie von zahlreichen, oft nur noch Forschern bekannten Persönlichkeiten vor dem Hintergrund von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Insbesondere im Vergleich und in der Gegenüberstellung der Verhältnisse etwa in Deutschland, Österreich, England, Frankreich und Amerika werden erst die speziellen Entwürfe und die dahinter verborgenen Konzepte verständlich. Denn auch wenn um 1900 die körperliche wie gesellschaftliche Emanzipation der Frau zum zentralen Gegenstand des künstlerischen Interesses geworden war, so dokumentieren die Kleiderentwürfe im detaillierten Blick vielfach die unterschiedlichen ästhetischen, gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Voraussetzungen von der deutschen Reformbewegung über die Wiener Werkstätte bis zur englischen Arts and Crafts Bewegung oder der Herausbildung der Haute Couture in Paris.
Wer sich dafür interessiert, unter welchen Bedingungen unsere moderne Welt und die Art, wie wir Kleidung und Mode konsumieren und interpretieren, entstand, für den ist dieser Katalog zweifellos ein Must-have. Leserinnen und Leser können durch die gewählten interdisziplinären Perspektiven im Umbruch der vorletzten Jahrhundertwende wie im rückwärts gerichteten Spiegelblick gesellschaftliche und geschmackliche Fragestellungen entdecken, an deren Beantwortung wir bis heute teilhaben. Dieser Blick in die Vergangenheit schärft den Blick auf das, was aus den Ideen geworden ist. Zugleich vermitteln die Fotografien und Zeichnungen etwas von der kreativen Lust am Experimentieren, die bei aller gesellschaftskritischen Motivation der Frauen und Männer dieses Zeitalters sicher der innere Antrieb gewesen sein dürfte, was wiederrum inspirierend wirkt.
Auf Freiheit zugeschnitten
Das Künstlerkleid um 1900 in Mode, Kunst und Gesellschaft
Hg. Magdalena Holzhey, Ina Ewers-Schultz
Beiträge von B. Dogramaci, I. Ewers-Schultz, I. Fleischmann-Heck, J.Hahn, M. Holzhey, I. Ganzer, A. Neumann-Golle, P. Ober u.a.
288 Seiten, 336 Abbildungen in Farbe
24 x 28 cm, Flexocover
HIRMER Verlag
ISBN: 978-3-7774-3113-0