Vom Cover des Bandes blickt eine junge, still wirkende Frau mit sicherem Blick. In diesem Selbstporträt der Malerin Paula Modersohn-Becker (1876–1907) mit dem Titel „Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz und Kette“, 1906/07, stellt sich eine Malerin dar, die in der öffentlichen Wahrnehmung wie keine andere Künstlerin ihrer Zeit Beachtung fand. Wurde sie auch zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und nicht anerkannt, waren ihre Arbeiten bereits wenige Jahre nach ihrem frühen Tod mit 31 Jahren im Kindbett in mehreren deutschen Museen zu sehen. Damit begann für das künstlerische Werk von Paula Modersohn-Becker eine Rezeptionsgeschichte, die in ihrer Wirkung auf die Betrachtenden nichts von ihrer Faszination verloren hat. Der Mythos Paula Modersohn-Becker war entstanden.
Derzeit und noch bis zum 06. Februar 2022 präsentiert die Schirn Kunsthalle Frankfurt eine umfangreiche Retrospektive mit 116 Werken von Paula Modernsohn-Becker und offenbart mit dieser Schau, wie diese Künstlerin in ihrem in nur einem knappen Jahrzehnt entstandenen Œuvre, zentrale Tendenzen der Kunst der Moderne vorwegnahm. Zu sehen sind thematisch geordnet Selbstporträts, frühe Akte, Porträts, Kinderbildnisse, Mutter-und-Kind- bis hin zu Bauerndarstellungen, Stillleben und Landschaften aus Worpswede und Paris. Es ist die zeitlose Direktheit im Blick, in der Farbe, in der Ruhe, fast Bewegungslosigkeit ihrer Bildmotive, die bis heute berühren und beeindrucken.
Im Hirmer Verlag erschien der Begleitband zur Ausstellung „Paula Modersohn-Becker“, der auf 220 Seiten und mit 180 farbigen Abbildungen durch Beiträge ausgewiesener kunsthistorischer Fachleute und einer beeindruckenden Auswahl von Gemälden und Zeichnungen der Ausnahmekünstlerin eine Annäherung an ihre kurze Lebens- und Schaffenszeit bietet. Die Herangehensweise der Betrachtung wird geleitet von der Überlegung, für eine vermeintlich allzu bekannte Künstlerin aktuelle Fragestellungen zu entwickeln.
In der Tat betrachten die Autorinnen und Autoren des Bandes diese wegweisende moderne Künstlerin und Frau um 1900 in höchst interessiert zu lesender Weise – programmatisch ankündigt durch den Beitrag „Zeitlos, direkt, merkwürdig – Gedanken zu Paula Modersohn-Becker“ der Herausgeberin Ingrid Pfeiffer. Die nachfolgenden Beiträge fokussieren in ebensolcher Art auf das, was die Herangehens- und Darstellungsweisen der Künstlerin so einzig, so unverwechselbar machen, etwa die Darstellung der Mutterschaft im Werk oder das Ruhen in Bewegung. Sie beleuchten die bisher nur am Rande betrachtete Studienzeit der Künstlerin vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens und verorten im Vergleich mit anderen Künstlerinnen die individuelle Entwicklung Modersohn-Beckers. Zahlreiche, bisher ungelöste Fragen werden beantwortet, Deutungszusammenhänge vorgestellt und dennoch bleiben nach wie vor Fragen offen, was es umso anregender macht, die Werke der Künstlerin in jeder Generation neu zu betrachten und zu erforschen.
Durch diese Herangehensweise gelingt es, die Kategorisierungen der populären Künstlerin als Malerin von Kinderbildnissen, Müttern und Mutterschaft sowie norddeutscher Landschaft und Bauern zu öffnen, zu erweitern. Weit stärker als bisher richtet sich der Blick auf Modersohn-Beckers Selbstporträts und ihre kreativ-kreatürliche Suche nach sich selbst, wie sie es dem befreundeten Dichter Rainer Maria Rilke in einem Brief im Februar 1906 mitteilt, indem sie schreibt: „Ich bin ich, und hoffe es immer mehr zu werden“. Besonders aufschlussreich sind die Ausführungen zu Modersohn-Beckers Studienjahren (London, Berlin, Paris) und ihre Äußerungen zu den Positionen frauenrechtlicher Entwicklungen um 1900. Schließlich erarbeitete sich Paula Becker als junge Frau einen Freiraum künstlerischer Aneignung in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, in der die Ausgrenzung von Künstlerinnen aus dem Kunstbetrieb vorherrschte. Um sich auszubilden, mussten Künstlerinnen an privaten Kunstschulen bis zu sechsmal höheres Schulgeld zahlen als an staatlich geförderten Akademien. Inspiration und Vorbild für die junge Künstlerin war die schwedische Künstlerin Jeanna Bauck, deren Bildnisklasse sie besuchte.
„Keiner kennt sie, keiner schätzt sie […] das wird anders werden.“ – hatte Otto Modersohn 1902 in sein Tagebuch geschrieben. Mit dieser inspirierenden Wahrnehmung und Darstellung der Lebens- und Schaffenszeit von Paula Modersohn-Becker im vorliegenden Band verwirklicht sich dieser Anspruch auf beeindruckende Weise. Etwa für jene, die ihre Arbeiten bereits kennen und zugleich für jene, die sich das erste Mal mit Paula Modersohn-Becker beschäftigen, denn Paula Modersohn-Beckers ikonenhafte Bildnisse berühren und faszinieren bis heute.
PAULA MODERSOHN-BECKER
Hg. Ingrid Pfeiffer
Beiträge von P. Demandt, S. Ewald, A. Havemann, I. Herold, I. Pfeiffer, K. Schick, R. Stamm, W. Werner
220 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe
ISBN: 978-3-7774-3722-4