Wer sich mit Picasso beschäftigt, erkennt bald, dass Leben und Werk dieses außergewöhnlichen Künstlers untrennbar mit den Leben einer ganzen Reihe von Frauen verbunden waren. Sie waren Ehefrauen und Musen, Modelle und Künstlerinnen, wurden von ihm angezogen oder suchten die Distanz. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive ist oft zu lesen, mit jeder neuen Muse hätte der Künstler einen neuen stilistischen Impuls erfahren können, der sein schöpferisches Arbeiten in sichtbarer Weise beeinflusst hätte. Abschnitte seines Werkes werden nach den Begleiterinnen Picassos gedeutet, wobei es nach Aussage Picassos nur zwei Arten von Frauen geben würde: „Göttinnen und Fußabstreifer“. Dass sich vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen das Leben an Picassos Seite für einige Frauen vom Traum zum Alptraum entwickelte, mag dabei kaum verwundern – und wirkt oft fast wie eine Randnotiz.
Das Leben dieser Frauen war aber nicht allein durch Picasso bestimmt. Es steht im Mittelpunkt des Bandes „PICASSO. FRAUEN SEINES LEBENS. Eine Hommage“. In der Tat ist es eine Hommage, eine Wertschätzung eigener persönlicher Entscheidungen, kreativ-schöpferischen Wirkens und empfindsamen Erlebens an der Seite Picassos ebenso wie losgelöst von ihm. In chronologischer Weise präsentieren Texte und Bildnisse biografische Miniaturen von zehn Frauen, die das Leben Picassos begleitet haben.
Die ersten Kapitel sind Picassos Mutter Doña María Picasso Lopez und seiner Schwester María Dolores Ruiz Picasso gewidmet, die den spanischen Künstler von Jung an unterstützten und umsorgten. Dass die Beziehung zu seiner Mutter von großer Bedeutung für seine Entwicklung war, betont bereits die Wahl des Mädchennamens seiner Mutter als Künstlernamen.
Eine wichtige Frau, die Picassos künstlerische Existenz beeinflusst hat, war Gertrude Stein. Die selbstbewusste Amerikanerin führte im frühen 20. Jahrhundert zusammen mit ihrem Bruder Leo viele Jahre lang einen Salon in der Rue de Fleurus 27 in Paris, der „besten Bildergalerie Europas“ und ebenso Treffpunkt der Avantgarde. Die „Mutter und Muse der Avantgarde“, wie sie genannt wurde, empfing gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas Gäste und Gesprächspartner, zu denen neben Hemingway, Janet Flanner, Marie Laurencin, Braque, Matisse ebenso Picasso gehörte.
Die nachfolgenden sieben Kapitel beschäftigen sich mit jenen Frauen, die zu Geliebten, Ehefrauen und Müttern von Picassos Kindern werden sollten: Fernande Olivier, Eva Gouel, Olga Chochlowa, Marie-Thérèse Walter, Dora Maar, Françoise Gilot und Jacqueline Roque, die als Ehefrau und letzte Begleiterin des Künstlers auch an seiner Seite im Park des Châteaus de Vauvenargues beigesetzt wurde.
Die Schicksale jeder einzelnen Frau, sei es der ersten Ehefrau, der russischen Balletttänzerin Olga Chochlowa, der junge Muse Marie-Thérèse Walter, der Geliebten Dora Maar oder der Künstlerin Françoise Gilot, die Picasso verließ, werden auf feinfühlige, achtsame Weise betrachtet. Marilyn McCully und Markus Müller nähern sich jeder Frau mit dem Bewusstsein an, dass ihre Persönlichkeit nicht allein durch ihr Verhältnis zu Picasso gedeutet werden darf, sondern aus sich heraus betrachtet werden müsse.
Zweifellos hat Picasso ihre Schicksale beeinflusst, doch indem Marilyn McCully und Markus Müller ihre Selbständigkeit, ihre künstlerischen Ambitionen und Schöpfungen nachzeichnen und immer wieder ihre individuellen Wünsche, Träume und Sehnsüchte betonen, lösen sich ihre Leben von der Hintergrundfolie eines Mannes, der aus der Perspektive der Kunstgeschichte noch im 21. Jahrhundert wirkungsmächtig ihr Bild bestimmt.
Der Band bietet die Möglichkeit, beide Aspekte im Leben der Frauen kennenzulernen. Es ist spannend, sich mit dem Leben jeder dieser Frauen auseinanderzusetzten, denn umso deutlicher zeigt sich, dass auch sie Picassos Leben beeinflusst haben – und dies nicht allein künstlerisch.
PICASSO. FRAUEN SEINES LEBENS
Eine Hommage
Marilyn McCully, Markus Müller
Hg. Margrit Bernard
184 Seiten, 90 Abbildungen in Farbe
Hirmer Verlag
ISBN: 978-3-7774-3724-8