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Buchtipp: Hinter den Gärten die Welt. Die Reisen der Marie Luise Gothein

Marie Luise Gothein (1863-1931) war eine jener Frauen, geboren und sozialisiert im 19. Jahrhundert, die die Frauen auferlegten Begrenzungen durch Intellekt, Energie und Durchhaltevermögen sprengten. Ihre 1914 erschienene zweibändige „Geschichte der Gartenkunst“ wurde zum Klassiker, reich illustriert und mit 960 Seiten, bis heute neu aufgelegt und übersetzt. Das Werk hat als kulturhistorische Grundlagenarbeit Maßstäbe gesetzt.
Im ersten Band werden in sechzehn Kapiteln die Weltgeschichte der Gärten behandelt, begonnen mit dem altägyptischen Garten über den babylonischen, griechischen, römischen, byzantinischen, mittelalterlichen bis hin zu den Renaissancegärten Italiens, Spaniens und Portugals. Der Folgeband konzentriert sich auf England, Frankreich, Deutschland und die Niederlande zur Zeit der Renaissance bis hin zur Blütezeit des französischen Gartens, beinhaltet zudem Abschnitte über chinesische und japanische Gartenkunst. Abschließend werden der englische Landschaftsgarten und die „Hauptströmungen der Gartengestaltung im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ betrachtet.

Wie diese bemerkenswerte Forscherin, die von vielen in der Öffentlichkeit als gebildete Professorengattin und Mutter von vier Söhnen wahrgenommen worden sein mag, wissenschaftliche Bildung, Forschung, Reisen und Autorentätigkeit umsetzen konnte, hat die Autorin Karin Seeber in ihrem gerade erschienenen Roman „Hinter den Gärten die Welt. Die Reisen der Marie Luise Gothein“ auf spannende Weise nachvollziehbar gemacht. Dieses Buch bewegt, lässt einen staunen und regt an, sich mit den wissenschaftlichen Arbeiten Marie Luise Gotheins zu beschäftigen.

All das, was für Männer ihrer Epoche gewünscht, gefordert und angemessen war, versagte das gesellschaftliche Lebensmodell Frauen wie der jungen Marie Luise Schröter aus guter Familie in Ostpreußen. Weder Universitätsstudium noch freie Berufswahl waren für Mädchen und Frauen möglich. Hausarbeiten wie Kochen und Stricken, Fürsorge für Familienmitglieder und das Einfügen in gesellschaftliche und soziale Muster waren Pflichten und sollten ohne Widerstände akzeptiert werden.
Doch die junge Frau hatte das Glück nicht allein das innere Rüstzeug und die Energie für autodidaktische Studien zu besitzen, sondern einen Mann zu finden, der sie unterstützte, förderte und lebenslang liebte. An der Seite des Wissenschaftlers Eberhard Gothein (1853-1923), Nationalökonom und Kulturhistoriker, entwickelte sie sich zu einer in Fachkreisen anerkannten Expertin für Literatur und Kulturgeschichte sowie für Gartenkunst. Sie studierte Kultur, Sprache und Geschichte mit einem humanistischen Bildungsanspruch und widmete sich viele Jahre lang intensiven Forschungen zur Gartenkunst, die die Bedeutung der Gartenkultur in der Menschheitsgeschichte hervorhob und damit in bedeutender Weise das Forschungsfeld markierte. Was sie stetig vorantrieb, war ihre verinnerlichte Idee: „Hinaus in die Zukunft leben“
Zugleich hatte sie Widerstände und Widersprüche in sich und in der Umwelt ihrer Zeit zu lösen und zu überwinden. Dass eine Frau allein auf Reisen ging, war nach wie vor ungewöhnlich und beschwerlich. Doch Marie Luise Gothein ging regelmäßig auf Forschungsreisen, besuchte Archive, Bibliotheken oder traf Freunde, zudem liebte sie das Skifahren und das Wandern. Bereiste sie zunächst Europa, so konnte sie im Laufe der Jahre bis nach Japan, China und Java gelangen. Nur für wenige ihrer Zeitgenossen mag eine derartig umfangreiche Reisetätigkeit möglich gewesen sein.

Die Autorin Karin Seeber hat sich als Kunst- und Gartenhistorikerin bereits tiefgründig mit Marie Luise Gothein in ihrer Dissertation beschäftigt. Während sie dort die intellektuellen und ästhetischen Konzepte der Forscherin hinsichtlich ihrer Darstellung der Gartenkunst analysiert, erzählt sie im vorliegenden Roman auf eine gänzlich andere Art die Geschichte dieser außergewöhnlichen Frau.
Dabei bleibt sie nah an den persönlichen Dokumenten, etwa dem Briefwechsel des Ehepaars Gothein, Tagebucheintragungen von Marie Luise Gothein, einer Reihe weiterer Quellen aus Familie und Freundeskreis sowie den Publikationen Marie Luise Gotheins. Folgt man diesen Quellen, lässt sich die bürgerliche Emanzipation einer Frau, aber noch mehr, die eines Paares erkennen, die durch Bildungsideale inspiriert war, wie der Beschäftigung mit Goethe, Shakespeare und Keats, Jacob Burckhardt und Ranke, aber auch der Erfassung mit den Sinnen, indem man in die Welt hinaus geht und sehen lernt.

Karin Seeber hat sich auf Spurensuche begeben und reist entlang der gartenhistorisch ebenso wie persönlich erfahrbaren Orte durch Europa und schließlich bis nach Asien. Dabei nähert sie sich behutsam, fantasievoll und stets aus einer doppelten Perspektive. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht die Frage nach den inneren Beweggründen, dem Antrieb zu Wissen, Freiheit und Entfaltung auch oder gerade wegen der gesetzten Grenzen und Bedingtheiten.
Karin Seeber gelingt es ein facettenreiches Bild einer Wissenschaftlerin, die Ehefrau und Mutter, aber auch Haushälterin und Dienstherrin für die im Haus Angestellten war, lebendig werden zu lassen. Die Konflikte mit ihrer Umwelt, männliche Freunde und weibliche Konkurrentinnen, die Frauen-Emanzipationsbewegung der Zeit, der Umbruch zur Moderne wie der Erste Weltkrieg und das Herannahen des Faschismus prägten das Leben dieser Frau, die Wissen erlangen wollte, die neugierig und mutig war. Marie Luise Gothein widmete sich dem Lernen und Forschen, dem Austausch über Zusammenhänge im Gespräch und in der Publikation – ein Leben lang.

Karin Seeber zeichnet das Porträt einer Frau, die voller innerer Stärke ein erträumtes Ideal in Realität verwandelte – mit Ängsten, Verlusten und Versuchungen, aber stets beseelt mit Geist und Fantasie und einem Partner an ihrer Seite, der Verstand und Gefühl besaß, um ihren Freiheitsdrang zu verstehen und vorbehaltlos zu unterstützen. Dieser Roman würdigt eine Frau, die bisher keineswegs die Anerkennung und Wertschätzung erfahren hat, die ihrer Leistung entspricht. Die für die Darstellung gewählte Form wird mit Sicherheit eine größere Leserschaft erreichen und der Forscherin, deren „Geschichte der Gartenkunst“ in vielen gut geführten Bücherregalen thematisch Interessierter zu finden sein wird, Ehre erweisen. Das Vermächtnis Marie Luise Gotheins, so Karin Seeber, ist die Vermittlung der Gartenkunst. Lesen, unbedingt lesen!

Karin Seeber
Hinter den Gärten die Welt
Die Reisen der Marie Luise Gothein
Roman
272 Seiten
Verlag Schöffling & Co.
ISBN 978 3 7317 6259 1

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