Wer sie einmal sah, vergisst sie nicht: das Schokoladenmädchen, ein Meisterwerk. Wie sie da steht, mitten im Raum, gleich serviert sie die Schokolade, die sie so elegant auf dem Tablet in ihren Händen präsentiert. Gewiss, ihre Kleidung und ihre Haube, selbst der Raum, in dem sie sich befindet, verweisen auf ihre Stellung als Hausangestellte in einer längst vergangenen Zeit. Trotzdem berührt ihr Anblick über Zeit und Raum hinweg den Betrachter.
In Wien gemalt, nahm es der Künstler mit nach Venedig, wo es im Auftraf des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs August III. angekauft wurde und somit nach Dresden gelangte. Dass die Pastellmalerin Rosalba Carriera das Schokoladenmädchen von Jean-Étienne Liotard bereits kurze Zeit nach seiner Erschaffung als das „schönste Pastell, das man je gesehen hat“ bezeichnete, überzeugt bis heute ihre Bewunderer. Dieses Bild bleibt einem mehr als manches Gemälde hochwohlgeborener Herrschaften in Samt und Seide im Gedächtnis. Vielleicht liegt der Charme dieser Figur gerade in der Darstellung einer Frau in untergeordneter Stellung. Bilder dieser Art gibt es nur wenige. Wer war sie? Wie verlief ihr Leben? Warum wählte der Maler gerade sie? Fragen wie diese, schwirren noch heute im Kopf herum, sodass es nicht weiter verwunderlich erscheint, dass ihr Anblick schon frühe Verehrer zu fantasiereichen Überlegungen ihr Leben betreffend reizte.
Vom 28.09.2018 bis zum 06.01.2019 widmete sich eine Ausstellung in der Gemäldegalerie Alte Meister Dresden all jenen Gedanken und Fragen, die das Gemälde und seinen Schöpfer umgeben. Passend zur Ausstellung erschien ein Katalog, der tiefgründig und angereichert mit zahlreichen Abbildungen die bisherigen Erkenntnisse zu Maler und Werk präsentiert und anschaulich vermittelt. Ausgehend von diesem zauberhaften Bild eines unbekannten Stubenmädchens, das einem unsichtbar bleibendem Genießer ein exotisches Modegetränk der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts kredenzt, nähern sich die Autor_innen einem Maler, der mit Sicherheit als eine der spannendsten Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit gelten darf.
Wobei fraglich ist, ob der in Genf geborene Jean-Étienne Liotard von der an Kunst interessierten Öffentlichkeit unserer Tage bereits als solcher wahrgenommen wird. Zumal der vielgereiste und an den großen europäischen Höfen seiner Zeit gut vernetzte Künstler bevorzugt Pastellgemälde fertigte, jedoch keines eine Berühmtheit wie das Dresdner Schokoladenmädchen erreichte. Dabei hinterließ er ebenso Gemälde in Öl, Miniaturen, Emails, Zeichnungen und Drucke, sodass insgesamt mehr als 500 Werke seine Schöpferlust dokumentieren.
Kaiserin Maria Theresia schätze ihn und seine Kunstfertigkeit ebenso wie ihre Tochter, die junge französische Königin Marie Antoinette. Auch Prinzessin Augusta von Wales bewunderte sein Talent und ließ sich und ihre Kinder von ihm in sehr persönlicher, nahezu zeitloser Weise porträtieren. Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth nutzte nicht allein die Gelegenheit, als sich Liotard anlässlich der Kaiserkrönung im September 1754 auf der Durchreise befand bzw. in Frankfurt weilte, sich und ihre Tochter malen zu lassen, sondern ließ sich in ihren eigenen malerischen Arbeiten inspirieren. Gerade weil Liotard nicht nach barocker Idealisierung strebte, sondern mit seinen Pastellfarben den Menschen einfangen wollte, mögen sich die von Prunk und Pracht umgebenen Mächtigen ein von seiner Hand gefertigtes Porträt gewünscht haben.
Wie wunderbar, dass die Dresdner Ausstellung in so detaillierter Weise die Entstehung des Schokoladenmädchens beleuchtet hat und dass dieser 272 Seiten umfassende und 218 farbige Abbildungen beinhaltende Ausstellungskatalog das in intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Maler und Werk erworbene Wissen so lesbar und kundig weiterträgt. Denn auf einmal erschließt sich ausgehend von dieser zauberhaften Person und ihrem so elegant offerierten Getränk eine versunkene Welt der Genüsse und Wünsche, der Fantasie und Farbigkeit, die dieser bisher viel zu wenig wahrgenommene Betrachter jener Welt für uns bewahrt hat. Indem die Auto_innen das Schokoladenmädchen ansehen, im Vergleich, in der Betrachtung der Vorbilder und der Nachwirkung, im Material und der angewandten Technik analysieren, erschließen sie eine Kulturgeschichte, die, wie sich allein durch das anhaltende Interesse an diesem Gemälde zeigt, bis in unsere Zeit reicht. Die Bewunderung für dieses Meisterwerk wird nach der Lektüre dieses Bandes umso größer und steigert das Interesse, sich auf die Spuren des Künstlers und seines weit verstreuten Werkes zu begeben.
„Das schönste Pastell, das man je gesehen hat“
Das Schokoladenmädchen von Jean-Étienne Liotard
Hg. Stephan Koja, Roland Enke
Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Hirmer Verlag
272 Seiten, 218 Abbildungen in Farbe
21 x 25,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3134-5