Mit den ersten Sonnenstrahlen im Frühjahr erwacht die Lust, hinaus in die Natur zu gehen. Goethes Osterspaziergang beinhaltet dafür die schönsten Worte. Wenn nun die ersten Farbtupfer durch all die Frühblüher in die Landschaft gesetzt werden, erscheinen diese umso leuchtender vor der Kulisse winterlicher Zurückhaltung. Wo die Farbe und die Dichte der Vegetation fehlen, zeichnen sich weit stärker die Konturen der Landschaft und die Gestalten ihrer größten Akteure ab – der Bäume. Bei Laubbäumen wird das Geäst, Ast um Ast, Zweig um Zweig sichtbar, werden die Unterschiede ihrer Strukturen nach ihrer Baumart, ebenso ihrer von Baum zu Baum individuell gestalteten Form erkennbar. Was für eine Vielfalt, was für eine Schönheit. In den lichten Wäldern fallen die Nadelbäume nun viel mehr auf.
So unbeweglich Bäume auch auf den ersten Blick erscheinen, so sehr prägen und verändern sie Landschaften. So basiert der englische Landschaftsgarten entscheidend auf dem Element der einzeln oder in Gruppen gesetzten Exemplare. Darüber hinaus hat diese Form der Gartenkunst im 18. Jahrhundert das Gesicht der englischen Landschaft nachhaltig verändert. Nach dem seit Jahrhunderten praktizierten Raubbau, der Holz für Flotte und Industrie lieferte, setzte durch die gartenkünstlerische Bewegung eine großzügige Wiederaufforstung ein und formte allmählich eine kultivierte Landschaft. Berechnungen zufolge veranlassten die beiden führenden Landschaftsgärtner Lancelot Brown und Humphry Repton die Einfuhr und Anpflanzung von etwa 40 Mio. Bäumen aus Übersee. Als malerisch wahrgenommen, prägten diese Veränderungen die Vorstellung von englischen Landschaften anhaltend, wirkten vielfach identitätsstiftend.
Wer sich Zeit für die Wahrnehmung eines Baumindividuums nimmt, wird nicht allein sein seine Schönheit und Stärke bewundern, sondern sich bald fragen, wann und wo etwa der Name eines Baumes geprägt wurde. Denn dass Bäume seit Urzeiten wichtige religiöse, politische und kulturelle Symbole für uns Menschen darstellen, zeigen die unterschiedlichen Kulturen. Umso intensiver wir Bäume wahrnehmen und studieren, umso mehr erfahren wir dabei über unsere Kulturen und unseren Umgang mit der Umwelt.
Die Autoren Kevin Hobbs, professioneller Pflanzenzüchter mit über 30 Jahren Erfahrung im Gartenbau, und David West, spezialisiert auf die kommerzielle Produktion von seltenen Bäumen in seiner eignen Baumschule, haben sich auf eine visuelle Reise begeben, um den gemeinsamen Weg der Menschen und Bäume zu erkunden und herauszufinden, „wie sie unsere Lebensweise verändert haben“ – wie der Untertitel treffend hervorhebt. In ihrem gerade in Deutsch erschienen Buch „Die Geschichte der Bäume“ nehmen sie die Leserschaft mit auf diese Reise, die bei den frühesten bekannten Baumarten beginnt und den Spuren bis hin zu den neuesten Kulturpflanzen folgt, etwa den von uns hoch geschätzten Obstbäumen. Entstanden ist so eine Kulturgeschichte des Baumes, wobei sie mehr als 100 Bäume aus der ganzen Welt porträtiert haben. Neben den botanischen Daten berichten sie aufschlussreich über ihre Bedeutung für den Menschen in all ihren unterschiedlichen Aspekten. Dabei umfasst jedes Porträt eine von Thibaud Hérem, freischaffender Illustrator und auf Bleistift und Tinte spezialisiert, angefertigte Illustration, die durch ihre Zartheit die Einzigartigkeit dieser Geschöpfe ausdrücklicher hervortreten lässt als eine Fotografie.
Es ist erstaunlich, wie sich die Fakten der botanisch-historischen Informationen zu Geschichten verbinden, deren Elemente Bäume, Wasser, Wind, Erde und wir Menschen sind. Ihr umfangreiches Wissen breiten die beiden Autoren mit souveräner Leichtigkeit ihrer Sprache aus, die von Bettina Eschenhagen stilsicher ins Deutsche übersetzt wurde. Da lesen Sie von einem „Hoffnungsträger“ (S. 12), der „Lieblingsspeise der Seidenraupe“ (S. 52), über ein „Hawaiisches Licht“ (S. 111) oder dem „Liebling der Honigbiene“ (S. 183) und geraten immer stärker in den Bann der Baumwesen, die uns schon so lange begleiten. Wer dieses Buch liest, dessen Blick wird sich verändern, Leserinnen und Leser werden ihre persönliche Verbindung zu den uns umgebenden Bäumen intensiver wahrnehmen und staunen, wie eng verknüpft die Geschichte der Bäume mit unserer Geschichte ist. Dieses Buch wird zu einem unverzichtbaren Reisegleiter auf dem Weg zur Natur werden!
Die Geschichte der Bäume
Und wie sie unsere Lebensweise verändert haben
Kevin Hobbs, David West (Autoren), Thibaud Hérem (Illustrator), Bettina Eschenhagen (Übersetzerin)
Laurence King Verlag GmbH
216 Seiten
350 Abbildungen, davon 250 farbig
ISBN: 978-3-96244-080-0