Während in der Kunsthalle München noch bis zum 8. März 2020 zum ersten Mal in Deutschland Tapisserien aus der Pariser Manufacture des Gobelins zu sehen sind, hergestellt nach Entwürfen der namhaftesten Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts, erschien parallel dazu im Hirmer Verlag der 216 Seiten umfassende Ausstellungskatalog „Die Fäden der Moderne. Matisse, Picasso, Miró … und die französischen Gobelins“.
Was diese Ausstellung so unvergleichlich macht, ist in der Tat das vielfach unbekannte Wirken zahlreicher moderner Künstler, die insbesondere durch ihre Gemälde Anerkennung und Weltruhm erlangt haben. Indem sie sich einer jahrhundertealten Webtechnik zugewandt haben, gelang es ihnen einer Kunst und somit einer Kulturtechnik neue Impulse zu geben und ihre eigene künstlerische Sprache zu bereichern. Das zeugt zum einen von der Kreativität dieser Künstler, zum anderen ebenso von den technischen Möglichkeiten der Herstellungstechniken, des Materials und nicht zuletzt vom Können der in den Werkstätten Beschäftigten. Schließlich umfasst der Prozess der Herstellung von der künstlerischen Vorlage bis zum fertigen Objekt tausende Arbeitsstunden, wobei die altbewährten Techniken der Garnherstellung, des Färbens sowie des Webens und Knüpfens nahezu unverändert angewandt wurden. Nach den Vorlagen der Künstler entstanden in der unter Ludwig XIV. (1638–1715) gegründeten Manufacture des Gobelins, in der Manufacture de Beauvais sowie der Manufacture de la Savonnerie Tapisserien ebenso wie Möbel oder Bodenteppiche. Zu sehen sind dabei textile Meisterwerke aus der Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis hinein in die Gegenwart, die kongenial künstlerischen Einfallsreichtum mit handwerklicher Virtuosität verbinden.
Für all die Interessierten wird der Ausstellungskatalog weit mehr als eine Erinnerung an die Präsentation der großformatigen Wandbehänge liefern. Der gestalterisch und drucktechnisch auf höchstem Niveau erzeugte Band beinhaltet nicht allein den Katalog (ab S. 54) der ausgestellten Werke, sondern bietet darüber hinaus thematisch spezialisierte Beiträge von fachkundigen Autorinnen und Autoren. Sie ordnen die Kunstwerke vor dem Hintergrund der schöpferischen Auseinandersetzung der Künstler und ihrer Zeit ein und gewähren einen regelrechten Einblick in eine traditionelle Handwerkstechnik, die einst von enormer politischer Bedeutung war. Schließlich symbolisierte Schönheit auf raffinierte Weise Macht und ökonomische Herrschaft, sodass Stoffe, Juwelen, Perlen, Möbel, Teppiche tragbare und deutlich lesbare Elemente im sozialen Zeichensystem waren. Nicht zuletzt eigneten sich Tapisserien besonders gut dazu, um ganze Bilderzählungen von gewonnenen Schlachten, eroberten Territorien und verehrten Idolen zu transportieren.
Wie ungewöhnlich derartige Kulturtraditionen in der Moderne erscheinen, untersucht und interpretiert etwa Gérald Remy in seinem Beitrag mit dem Titel „Von Verdun nach Berlin. Gedenken und Kollaboration in der Tapisserie“ (S. 43-51). Das Interesse an der Kunst der Herstellung der Wandbehänge ist komplex und überaus schwierig. Inzwischen ergründen zahlreiche Künstler und an Textilem Interessierte die technischen Abläufe und Vorgänge, sodass der Beitrag von Marie-Hélène Massé-Bersani mit dem Titel „Die Stufen des Herstellungsprozesses. Von Teppichen und Tappisserien in den Manufactures Nationales“ (S. 13-18) mit Sicherheit enthusiastisch gelesen werden wird. Der Umgang mit Textilem und mit textiler Kunst hat sich verändert, das wird in der öffentlichen Wahrnehmung immer sichtbarer, ebenso wirkt der Reiz des Handwerklichen mit seiner Sinnlichkeit und Erlebbarkeit von Stoff und Prozess in einer zunehmend digitalen Welt. Wie wunderbar, dass sich Fachleute, Künstler und Enthusiasten für das Bewahren und Weitergeben von Wissen und Handwerk einsetzen.
Die Fäden der Moderne
Matisse, Picasso, Miró … und die französischen Gobelins
Hg. Roger Diederen
Beiträge von C. Kaminski, M.-H. Massé-Bersani, L. Montagne, G. Remy, T. Sarmant, K. H. L. Wells
216 Seiten, 140 Abbildungen in Farbe
24 × 29 cm, gebunden
Hirmer Verlag, München