Was bleibt, wenn die Ausstellung „JOHANN GOTTFRIED SCHADOW. Berührende Formen“ in der Alten National Galerie Berlin abgebaut worden ist? Gewiss, ein Teil der dort gezeigten Kunstwerke wird andernorts zu sehen sein. So wie sich momentan noch bis zum 19.02.2023 die Wahrnehmung beim Anblick der Kunstwerke, insbesondere der Originale in Gips und in Marmor, schulen und mit den Sinnen erfassen ließe, wird sich später Schadows Kunstfertigkeit und Ausdruckskraft ohne die Objekte vor Augen wahrlich nicht begreifen lassen. Nichtsdestotrotz ist der vorliegende Ausstellungkatalog in hervorragender Weise dazu geeignet, die Annäherung an Schadows Schaffen zu ermöglichen und darüber hinaus zugleich die kunstwissenschaftlichen und restauratorischen Forschungen und Arbeiten kennen zu lernen.
Als Johann Gottfried Schadow (1764–1850), dereinst der berühmteste Künstler Preußens, aus Rom zurückgekehrt und zum Hofbildhauer am preußischen Hof berufen worden war, existierten vielerorts Denkmäler von Herrschern und Feldherren. Die Kunst war ein probates Mittel, um Herrschaft zu repräsentieren. Demgegenüber gab es lebensgroße Darstellungen von Frauen allein in mythologischem und allegorischem Kontext. Schadow gelang es mit der Prinzessinnengruppe, dem Figurenensemble der Schwestern Luise und Friederike von Preußen, „ein erstes repräsentatives Doppelstandbild zweier weiblicher historischer Persönlichkeiten“ (S. 188) zu gestalten.
In Rom hatte Schadow intensiv das Studium der Antike betrieben. Das Ideal des Schönen und Edlen im Geiste Winkelmanns leitete seine Sinneseindrücke, die er ästhetisch fassbar machen wollte. Zugleich suchte Schadow nach Ausdrucksformen, die die Grazie des bewegten Körpers in künstlerischer Sprache festzuhalten vermochte.
Die Erlaubnis die Prinzessinnen zu porträtieren, hatte der Hofbildhauer 1795 erhalten. Geplant war zunächst nur eine kleinformatige Ausführung in Biskuitporzellan. Vorbilder waren bis dato einerseits in der Antike zu finden, etwa in Figurengruppen der drei Grazien oder des Brüderpaars in der San-Ildefonso-Gruppe. Andererseits entstanden Schwesternbildnisse im Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts, wobei exemplarisch Arbeiten Gainsboroughs betrachtet werden können. Schadows Prinzessinnengruppe avancierte später selbst zum inspirierenden Vorbild.
Schadow fertigte Porträtbüsten an und arbeitete parallel an einem lebensgroßen Modell. Bemerkenswert war, dass er Maß nahm und sich Kleidungsstücke der Prinzessinnen lieh. Der Einfluss Winkelmanns zeigte sich deutlich, meinte der „geistige Begründer des Klassizismus“ doch, Grazie läge in dem, „was der Natur am nächsten“ kommt.
Der Schaffensprozess Schadows lässt sich Schritt für Schritt in den Beiträgen dieses Ausstellungsbandes nachvollziehen, wobei insbesondere die Gegenüberstellung des Gipsoriginalmodells (entworfen 1795) mit der 1797 in Marmor ausgeführten Prinzessinnengruppe spannend ist. Detailliert richtet sich der Blick auf die restauratorischen Arbeiten, die aufschlussreiche Erkenntnisse zum Arbeitsprozess Schadows und gleichzeitig zur zeitgenössischen Formauffassung liefern. Schadows bildhauerische Schöpfung stand in der Kontroverse zwischen Ideal und Wirklichkeit, einem „Zu-nah-am-Leben“, zu viel Kontur unter dem dünnen Stoff, zu privat im Arrangement. Was letztendlich zur Aufstellung der Prinzessinnengruppe an wenig attraktiven Orten im Berliner Schloss führte. Was der Auftraggeber, König Friedrich Wilhelm II. bewunderte, missfiel seinem Sohn und Nachfolger, König Friedrich Wilhelm III., dem Ehemann Luises.
Der 304 Seiten und 318 farbige Abbildungen umfassende Band stellt in den zahlreichen Beiträgen und dem kommentierten Ausstellungskapitel in genauer Weise neueste Forschungsergebnisse vor und präsentiert eine erstaunliche Rezeptionsgeschichte, die das Werk Schadows in seinen facettenreichen Nuancen vorstellt. Es zeigt Schadow als Bildhauer wie als Bürger, kreativ, ökonomisch denkend und eingebunden in ein künstlerisch-philosophisches Netzwerk, das die Antike-Rezeption wie die Aufklärung mit einem Ringen und Suchen neuer Ausdrucksmöglichkeiten vereint. Die Vielfalt der Perspektiven, die hier gewählt wurden, um sichtbar zu machen, auf welche Weise es Schadow gelungen ist, mit der Skulpturengruppe der beiden Prinzessinnen Kunstgeschichte zu schreiben, ist in der Tat bemerkenswert. Es ist eine erkenntnisgeleitete Darstellung, die den Zauber erhellt, der die Prinzessinnengruppe umgibt. Schließlich müsse es ein Zauber sein, der Schadows Werk so zeitlos und das Schwesternpaar in Marmor oder Gips bis heute zu einem Highlight für Berlin-Reisende macht.
JOHANN GOTTFRIED SCHADOW
Berührende Formen
Hg. Yvette Deseyve für die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin unter Mitarbeit von Sintje Guericke
Beiträge von T. Bräunig, A. Czarnecki, D. de Chair, Y. Deseyve, F. Göttlich, S. Guericke, R. Hofereiter, S. Kiesant, F. Labahn, A. Seidel, V. Tocha, P. Winter
304 Seiten, 318 Abbildungen in Farbe
Hirmer Verlag
ISBN: 978-3-7774-4086-6