Für uns sind flüchtige Blicke über Industrieanlagen an der Peripherie der Städte gewohnte Ansichten. Erst indem Fabrikhallen und Türme vielerorts in den letzten Jahrzenten verschwanden oder eine Belebung mit neuen Funktionen erfuhren, schärfte manch einer die Wahrnehmung auf diese architektonischen Zeugnisse von Industrialisierung und Urbanisierung. Kulturhistorisch verkörpern sie ebenso den Zeitgeist einer Epoche wie Kathedralen und Burgen, Paläste und Lustgärten. In Stein verwandelt, erzählen sie ein Stück Menschheitsgeschichte.
Es ist die Zeit des Aufbruchs der Menschen in die moderne Welt, die die künstlerisch wahrnehmenden Menschen faszinierte. Industrialisierung und Urbanisierung veränderten die Gesellschaft, entwurzelten, schufen neue Arten des Zusammenlebens, boten Chancen und kreierten neue Lebenswelten. Unsere Zeit und das Zeitalter der Industrialisierung verbindet viel: ein rasanter Wandel der wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten, die unmittelbar das Leben jedes Einzelnen verändern. Ob man will oder nicht. Dass es für manches, was da passiert, keine Worte oder Formen gab und gibt, weckt die Neugier umso mehr, sich diese künstlerisch eingefangenen Momente der Industrialisierung anzusehen.
Als sie entstanden und als Werke einer neuen Zeit gefeiert wurden, beeindruckten, fesselten, erschreckten sie Maler*innen und Fotograf*innen. Im Bucerius Kunst Forum Hamburg können Interessierte noch bis zum 26. September 2021 die Bildwelten der Industriekultur erleben. Im Verlag Hirmer erschien der Ausstellungskatalog, der auf 264 Seiten und mit 120 farbigen Abbildungen Zeugnis von dieser Wahrnehmung und Darstellung der Moderen Zeiten gibt. Wobei der für Ausstellung und Katalog gewählte Titel auf den berühmten Film von Charlie Chaplin Bezug nimmt. Ebenso tiefgründig wie aussagekräftig erfassen diese beiden Worte die Widersprüchlichkeit der Zeitläufte, die die Bilder illustrieren. Licht und Schatten, Fortschritt und Verlust dokumentieren, die nicht mit dem Beginn des Computerzeitalters beendet sind. Die Bildwerke handeln auch von unserer heutigen Form der Industrieproduktion mit all ihren sozialen Verwerfungen.
Die Motive sind zum Beginn dieser Ära ganz neu. Es mussten Arten der Präsentation, des Erfassens und des Vermittelns gefunden werden. Zu der Begeisterung und Faszination gesellte sich bald Abscheu und Sozialkritik. Doch den Blick konnte und kann man nicht abwenden. Genauso wenig, wie das 21. Jahrhundert seine historischen Bezüge in den Entwicklungen des 20. und 19. Jahrhunderts besitzt. Was im Übrigen im Vergleich der Bildwerke dieses Bandes deutlich hervortritt. Für die Betrachtenden ist es nahezu wie ein Gang durch die Jahrhunderte, der zugleich Wandel und Beständigkeit ausdrückt, denn der Blick in die Gesichter schafft die Brücke über die Zeitläufte hinweg.
Aus fachspezifischer Perspektive ordnen Autorinnen und Autoren das Gesehene ein, verbinden und verknüpfen technische Mittel und darstellerische Komposition, sodass wie in einem Kaleidoskop Mensch und Maschine, Kraft und Geist, Ausbeutung und Kampf sichtbar werden. Im Nebeneinander verhärmter Gesichter, stereotyp modulierter Silhouetten verschwimmen Mensch und Räderwerk, Muskeln und Eisenkolben. Wie gegenwärtig ist auf einmal die Malerei um 1900. Bildgewaltig rinnt der Zeitraum von 175 Jahren vorbei und präsentiert anhand von vierzig Gemälden und einhundertfünfzig Fotografien Entwicklungen und Wandel der künstlerischen Industriedarstellung. Was einst fortschrittsgläubig und enthusiastisch mit idyllischen Fabrikansichten der 1850er Jahre begann, sozialkritische Tendenzen ab 1900 hervorhebt, reicht bis zur kritischen Beurteilung unserer Gegenwart im Widerspruch zwischen Klimawandel und Optimierungswahn.
MODERNE ZEITEN
Industrie im Blick von Malerei und Fotografie
Hg. Kathrin Baumstark, Andreas Hoffmann, Ulrich Pohlmann
Beiträge von F. Ebner, S. Friese-Oertmann, T. Koenig, K. Lowis, U. Pohlmann, L. Schepers, R. Stremmel
264 Seiten, 120 Abbildungen in Farbe
Hirmer Verlag
ISBN: 978-3-7774-3799-6