2018 waren die britischen Royals in den Medien omnipräsent: Hochzeiten, Geburten und Jubiläen wurden gefeiert – und auch 2019 richtet sich der Blick auf das britische Königshaus. Insbesondere auf die Frauen der Familie, an erster Stelle natürlich auf die Königin, wobei dieser von Neugier getragen bleibt. Zweifellos ist der Historikerin Karina Urbach in der Tat vollends zuzustimmen, wenn sie die erweiterte und aktualisierte Ausgabe ihres Buches „Queen Victoria. Eine Biografie“ mit folgendem Satz beginnt: „Königinnen haben Konjunktur.“ (S. 7) So manches in der öffentlichen Präsentation dieser ganz besonderen Familie geht auf Königin Victoria von Großbritannien und Irland (1819-1901) zurück, was wohl kaum jedem Betrachter bewusst sein wird. Wie und warum sich genau jene Formen der royalen Darstellung herausgebildet haben und welchen Anteil die Persönlichkeit Victorias daran hatte – nach der schließlich ein ganzes Zeitalter benannt wurde -, beleuchtet die Autorin auf eindrucksvolle Weise.
Dass diese Enkelin des umstrittenen Königs Georg III., die 1837 im Alter von achtzehn Jahren den Thron bestieg, einmal in solch einflussreicher Art die Geschicke ihres Landes, ja ganz Europas prägen sollte, war weder bei ihrer Geburt noch bei ihrer Krönung zu erahnen. Bei all dem, was wir über Königin Victoria zu wissen glauben, ist und bleibt es reizvoll, neue Quellen und Deutungen kennenzulernen, denn irgendwie bleibt die strenge, in schwarzer Trauerkleidung auf alten Fotografien erscheinende Dame mythenhaft und schwer verständlich für unser Zeitalter ihrer Ururenkelin Königin Elisabeth II.
Die Autorin folgt den Spuren Victorias und versteht es durch ihre tiefgründige Analyse des Zeitgeschehens ebenso durch die Charakterisierung wichtiger Zeitgenossen, ein facettenreiches Bild dieser selbstbewussten Frau und Herrscherin zu entwerfen. Wie kaum ein anderer kennt die Autorin die Geschichte Englands und der königlichen Familie im 19. und 20. Jahrhundert. Karina Urbach unterrichtete an verschiedenen deutschen und britischen Universitäten und forscht seit 2015 am Institute for Advanced Study in Princeton. Vielen Lesern dürfte sie bereits bekannt sein, da sie als Fachberaterin an zahlreichen historischen Dokumentationen der BBC, des ZDF und des PBS mitgewirkt hat.
Karina Urbach konzentriert sich auf die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit Victorias, die es verstanden hat – dabei lange von ihrem Mann Albert geleitet –, im Ringen um eine neu zu definierende Position der Monarchie, Einfluss auf das politisch-gesellschaftliche Leben zu nehmen. Dabei zerpflückt Karina Urbach die sich hartnäckig haltenden Vorurteile über die Frau und Königin, die ihre Herrschaftsansprüche nicht aufgab und trotz ihrer tiefen Trauer bis zu ihrem Tod das politische Geschehen bestimmen wollte. Was ihr auf gewisse Weise sehr nachhaltig gelang. So ist es überaus interessant zu lesen, wenn die Autorin im letzten Kapitel zeigen kann, wie das von der „Großmutter Europas“ durch Verheiratung ihrer Nachkommen errichtete System über ihren Tod hinaus bis in die 1930er Jahre funktionierte.
Diese Biografie wird der Komplexität der Persönlichkeit gerecht und setzt Maßstäbe für lesbare, auf neueste Quellenrecherchen gestützte historische Arbeiten. Die Autorin bleibt in ihrer Betrachtung stets kritisch und weckt durch den kulturgeschichtlichen Rahmen vor dem sie ihre Protagonistin präsentiert, die Neugier, sich mit den Viktorianern näher zu beschäftigen. Denn letztlich zeigt sich in der Persönlichkeit Victorias auch die Ambivalenz ihres Zeitalters zwischen Fabrikschloten und romantischen Cottages, zwischen Weltmacht und Arbeiterelend.
Urbach, Karina
Queen Victoria. Die unbeugsame Königin
284 S., mit 27 Abbildungen und 2 Stammbäumen
Verlag C.H. Beck
ISBN 978-406-72753-5