Außerhalb von Großbritannien wurde und wird der britische Maler Thomas Gainsborough hauptsächlich als Porträtist der Oberschicht seiner Zeit wahrgenommen und gewürdigt. Er selbst betonte Zeit seines Lebens, dass ihn Landschaften weit mehr interessierten. Er sah sich selbst als Landschaftsmaler, der als Porträtmaler finanziell erfolgreich und öffentlich anerkannt war. Aber es waren die Landschaften, die ihn zum Zeichnen und Malen inspirierten, vielfach auch zum Experimentieren in Fragen der Komposition und Gestaltung. So berichtete sein großer Rivale Joshua Reynolds, als er Gainsborough nach dessen Todes würdigte, jener hätte Steine, Wurzeln und getrocknete Kräuter auf einem Tisch im Atelier platziert und daraus malend Gebirge und Wälder erschaffen.
Die Hamburger Kunsthalle widmete Gainsborough in diesem Frühjahr erstmals eine Einzelausstellung und präsentierte den berühmten Maler als Landschaftsmaler, dessen Werk die Zeitgenossen bewunderten, nachfolgende Künstler wie etwa John Constable ebenso beeinflusste wie spätere Generationen in der Wahrnehmung dessen, was als typische englische Landschaft gilt. Parallel zur Ausstellung erschien ein Katalogband, der die gezeigten Werke, eingebunden in mehrere Textbeiträge abbildet, in denen Autorinnen und Autoren das künstlerische Schaffen wie den Lebensweg Gainsboroughs vor dem Hintergrund des gesellschaftlich-politischen Wandels beleuchten. Damit stellen sie den Künstler als zentrale Figur in der Entwicklung einer „modernen“ Landschaftsmalerei vor.
Den Autorinnen und Autoren gelingt es diese komplexe kunsthistorische Thematik spannend und überaus verständlich zu vermitteln. Sie nähern sich auf drei Ebenen der historischen Person und dem Werk. Im ersten Teil, genannt: „Der Zugriff auf die Realität“, werden die niederländischen Vorbilder und die künstlerischen Anfänge des Malers in den Blick genommen. Im zweiten Teil, betitelt „Die soziale Landschaft“, zeigt sich in der prozesshaften Analyse der Bilder, wie sehr Gainsborough als scharfsinniger und zugleich mit den Anforderungen des Kunstmarktes vertrauter Zeitgenosse das Geschehen dokumentierte. Im letzten Teil, „Der kreative Prozess“, eröffnet sich eine detailreiche Annäherung an Gainsboroughs Arbeitsweise im Atelier, seine theoretischen Überlegungen und, soweit rekonstruierbar, die Betrachtung der Werke, die er in den berühmten Sommerausstellungen der Royal Academy of Arts öffentlich präsentierte. Erstaunlich, wie innovativ Gainsborough mit seinen malerischen Experimenten die Wahrnehmung von Landschaft veränderte.
Diese kenntnisreichen Darstellungen zeigen nachvollziehbar, wie Gainsborough als Augenzeuge in dieser Epoche des Umbruchs, die Veränderungen in der Landschaft wie im Gesellschaftsgefüge erfasste und mittels seiner Werke bis in unsere Zeit transportierte. Grandios verkörpert das sein bereits relativ früh entstandenes Werk Mr. und Mrs. Andrews. Porträt und Landschaft vereinigen sich in diesem Gemälde auf einzigartige Weise, sodass es kaum verwunderlich ist, dass es zu Gainsboroughs bekanntesten Werken zählt. Als Leihgabe kam es für die Dauer der Ausstellung aus der National Gallery London nach Hamburg.
Dieses Meisterwerk präsentiert in gelassenem Selbstbewusstsein das jung verheiratete Paar. Kurz zuvor war der Vater der jungen Frau verstorben, sodass nun durch diese Ehe die großen Besitzungen beider Familien zu einem noch größeren Besitz zusammengefügt wurden, der wiederrum die Basis für wachsende wirtschaftliche und damit politische Macht der wohlhabenden Familie bildete. Im Übrigen entstammte Mrs. Andrews als geborene Carter jener Familie, als deren Schuldner Gainsboroughs Vater 1748 verstarb (S. 90). Rätselhaft ist bis heute der unvollendete Zustand des Bildes, das einen nicht ausgeführten Bereich auf dem Kleid von Mrs. Andrews zeigt, was zu vielen Spekulationen Anlass bot.
Der dem heimatlichen Suffolk tief verbundene Gainsborough erweist sich als sensibler Beobachter, der in seinen Bildern vom Lande subtil die Vertreibung der landlosen Dorfbewohner dokumentiert. Doch das geschieht wie nebenbei, wie zufällig. Gleichzeitig erschafft er Szenen idyllischen Landlebens, die den heutigen Betrachter durchaus zu Assoziationen eigener Sehnsüchte verführen können. Beim genaueren Blick auf die malerischen Szenen fällt bei einigen Werken eine richtungslose Bewegung der Dargestellten, zuweilen eine unbestimmte Heimatlosigkeit auf. Die Besitzlosen strömten in die Städte und bildeten das in den entstehenden Fabriken benötigte billige Arbeitskräfte-Potential. Zugleich löste das neue Fabriksystem die alte Heimindustrie ab. Die Grundbesitzer bedienten sich der innovativen Methoden in Ackerbau und Viehzucht, betrieben Landwirtschaft zunehmend kapitalistisch und mehrten somit ihren Erfolg, der auf elegante Art in den entstehenden Landschaftskunstwerken präsentiert werden konnte. Zäune, wie sie bei Mr. und Mrs. Andrews zu sehen sind, gehörten zu den neuen Erscheinungen, die die Umformung der natürlichen Landschaft zum Wirtschaftsraum erkennbar machen.
Als Leser verfolgt man aufmerksam und gebannt den Weg des Malers, der hier so facettenreich dargestellt wird, und genießt beim Umblättern die prachtvoll dargebotenen Werke des Künstlers. Dieser Band ist nicht nur all jenen zu empfehlen, die sich für Kunstgeschichte begeistern. Auch alle an England interessierten Leser werden hier aufschlussreich und tiefsinnig historische Einsichten gewinnen und sich darüber hinaus an diesem liebevoll gestaltenten Buch erfreuen können. Für jene Gainsborough-Fans, die die Hamburger Ausstellung verpasst haben, ist dieser Band ein unverzichtbares Werk, das nicht in ihrem Bücherschrank fehlen sollte!
Thomas Gainsborough
Die moderne Landschaft
Hg. Katharina Hoins, Christoph Vogtherr im Auftrag der Hamburger Kunsthalle
Beiträge von M. Bills, B. Gockel, M. Hallett, K. Hoins, R. Jones, J. Karg, S. Pisot, Chr. Vogtherr
224 Seiten, 148 Abbildungen in Farbe
24 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-2996-0
Herzlichen Dank an den Hirmer Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.